Dierk Brunn, BSBD-Fachschaftsvertreter für den Psychologischen Dienst, konnte sich über die Resonanz auf das BSBD-Angebot freuen. Die auf seine Initiative hin am 20. Juni 2018 veranstaltete Fortbildung kam bei den Psychologinnen und Psychologen des Vollzuges sehr gut an. Dies mag sowohl an der Thematik als auch an der aus Rundfunk und Fernsehen bekannten Referentin gelegen haben.
Jedenfalls gingen weit mehr Bewerbungen ein, als Teilnehmerplätze zur Verfügung standen. Mit dieser Veranstaltung realisiert Dierk Brunn seine Vorstellung von einer sachgerechten Interessenvertretung des Psychologischen Dienstes. Neben den vorrangig durchzusetzenden Einkommens- und Berufsperspektiven für die Kolleginnen und Kollegen, sollen künftig auch die fachlichen Belange nicht zu kurz kommen, um einen aufgabenbezogenen kollegialen Austausch zu ermöglichen und attraktive Fort- und Weiterbildungsangebote zu eröffnen.
Am 20. Juni 2018 fanden sich in der dbb-Akademie in Königswinter 27 Kolleginnen und Kollegen des Psychologischen Dienstes aus allen Teilen des Landes ein, um an einem BSBD-Seminar teilzunehmen. Noch vor Ort konnte Dierk Brunn aus den spontanen Rückmeldungen der Teilnehmenden die Erkenntnis gewinnen, dass seine Initiative gut angekommen war. Aufgrund der begrenzten räumlichen Kapazitäten und der großen Nachfrage, konnten leider nicht alle Bewerbungen der Kolleginnen und Kollegen berücksichtigt werden.
Für den BSBD eröffnete dessen stv. Landesvorsitzender Ulrich Biermann die Veranstaltung. Er betonte dabei, dass die konkrete Gestaltung des Vollzuges schon immer ein wichtiges Anliegen des BSBD gewesen sei. In diesem Bereich, so der Gewerkschafter, werde der Vollzug künftig mit stetig neuen Herausforderungen befasst werden. Daher gewinne die fachliche Fort- und Weiterbildung für den BSBD zunehmend an Bedeutung. Hiervon erhoffe man sich allerdings auch eine Wechselwirkung auf die Gewerkschaftsarbeit, um die Vorstellungen und Einschätzungen der Strafvollzugsbediensteten auch im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des Vollzuges effektiv vertreten zu können. Und insoweit hoffe er auch auf die Unterstützung durch die Fachschaft.
Dem BSBD war es gelungen, Frau Dr. Nahlah Saimeh, bekannt aus den Medien als Autorin und sachverständige Gutachterin und als eines der aktuell bekanntesten Gesichter der deutschen Psychiatrie, für eine Fortbildungsveranstaltung zu gewinnen. Sie referierte drei Stunden über das Thema: Differentialdiagnostik aggressiven Verhaltens aus forensisch-psychiatrischer Sicht.
In ihrem Vortrag ging sie zentral auf die Lücke zwischen der Forensik und dem Vollzug ein, plädierte nachdrücklich für einen Schulterschluss und forderte vom Dienstherrn und von der Politik die Schaffung eines permanenten professionellen Rahmens für die Arbeit mit psychisch auffälligen und aggressiven Gefangenen.
Psychische Auffälligkeiten sind zunehmend auch bei Gefangenen im Vollzug anzutreffen
Nach Untersuchungen von Konrad (2016) ist die Zahl der psychisch auffälligen Gefangenen in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass ca. 70 % der Inhaftierten psychische Auffälligkeiten aufweisen. So erklärte auch Dr. Saimeh, dass etwa 4 % der Inhaftierten unter Psychosen, mindestens 10 % unter klinisch relevanten affektiven Störungen leiden und 65 % bereits im Vorfeld ihrer Inhaftierung wenigstens einmal in psychiatrischer Behandlung gewesen seien.
Weiter verdeutlichte sie durchaus nachdrücklich, dass gerade psychisch auffällige Gefangene im Allgemeinen und insbesondere persönlichkeitsgestörte Individualkonfigurationen besondere Gefährlichkeit und Aggressivität aufweisen und deshalb die Einhaltung spezifischer Sorgfaltspflichten erfordern. Dr. Saimeh konkretisierte in diesem Kontext das gesteigerte Gewaltrisiko Schizophreniegestörter, das gegenüber der Auftretenswahrscheinlichkeit innerhalb der Normalbevölkerung fast um den Faktor 5 erhöht sei. Das Risiko für Tötungsdelikte ist innerhalb dieses Störungsbildes sogar um den Faktor 10 gesteigert. Auch bei bipolaren Störungen geht man von einer Erhöhung des potenziellen Gewaltrisikos um den Faktor 3 aus, bei Intelligenzminderung um den Faktor 5 und bei Gefangenen, die die Diagnose einer suchtinduzierten Psychose aufweisen, ist das Gewaltrisiko um den äußerst bedenklichen Faktor 26 erhöht und damit genauso immens bedeutsam wie der, der im Gefüge von persönlichkeitsgestörten Individualkonzeptionen zu beobachten ist, der ebenfalls den Faktor 26 erreicht.
Derart psychisch auffällige Gefangene mit vollzuglich und prognostisch relevanten psychischen Auffälligkeiten bilden seit langem einen Großteil der Gefangenenklientel, Tendenz steigend. Immer häufiger hört man aus dem Kollegenkreis, dass der Vollzug inzwischen eher einer Psychiatrie ähnelt als einem Gefängnis. In Zeiten, in denen sich überlastete Psychiatrien nachvollziehbarerweise verweigern, gefährliche Patienten aufzunehmen, in denen das ebenso überlastete JVK in Fröndenberg die auffälligen Gefangenen notgedrungen in den Normalvollzug zurück verlegen muss, ob sie sich auf eine Medikation eingelassen haben oder nicht, in diesen Zeiten erscheint der Schulterschluss des psychologischen Dienstes zur Forensik und die Fortbildungsbedürftigkeit dringlicher und gebotener als je zuvor.
Zumal der Umgang mit einem psychotisch florierenden Gefangenen ohne medikamentöse Behandlung gravierende Risiken für das Behandlerteam birgt. Patientenübergriffe sind mit 42 % in Psychiatrien die häufigste Ursache von Arbeitsunfällen, was uns im Vollzug nicht unbekannt vorkommt. Immer wieder hat der BSBD darauf hingewiesen, dass die Zahlen der Übergriffe auf Kolleginnen und Kollegen steigen, auch aus Gründen der zunehmenden psychischen Auffälligkeiten und der Klientelüberlappung zur Forensik.
„Der Kreis der psychisch Auffälligen bindet in diesem Zusammenhang einen erheblichen Anteil an vollzuglichen Kapazitäten und behandlerischen Ressourcen, zumal in einem therapeutischen Setting fast 80 % über die Beziehungsarbeit läuft“, erläuterte Dr. Saimeh. „Diese Gefangenen sind sehr zeitaufwendig und häufig weniger therapiebereit, verweigern immer wieder die Einnahme ihrer Medikamente mit den entsprechend negativen Folgen.“
Eigensicherung ist wichtige Komponente der Behandlung
Konsequent forderte Nahlah Saimeh, dass Personennotrufgeräte als Pflicht im Umgang mit psychisch Auffälligen zu betrachten seien und dass das Nichttragen dieser Schutzvorrichtung als ein gravierendes Dienstvergehen betrachtet werden müsse. Wenn dies so ist, wäre doch auch die Frage naheliegend, was denn die bisherige ministerielle Verweigerung, diese Sicherheitstechnik nicht flächendeckend einzusetzen, wohl für ein Vergehen sein könnte? Immerhin sind wir auch Dank der Bemühungen des BSBD diesbezüglich auf dem Weg und entsprechende Investitionen in die Sicherheit der Kolleginnen und Kollegen wurden ministeriell zugesagt.
Im weiteren Verlauf des Vortrags wurde durch Dr. Saimeh darauf hingewiesen, dass Besprechungsräume mit zwei Türen (Fluchtweg) ausgestattet sein sollten und dieser Sicherheitsaspekt zumindest im Rahmen von Neubauplanungen berücksichtigt werden müsse. Ausstattungsgegenstände sollten im Besprechungsraum möglichst sparsam vorgesehen werden. Ein spezielles Erfordernis sah die Referentin Deeskalationstrainings vorzusehen. Dies müsse für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine verbindliche Pflicht sein. Dr. Saimeh erläuterte, wie wichtig eine umfassende Anamnese und deren Dokumentation für jeden anschließenden Kontakt sei. Differenzierte, umfassende Kenntnisse über Gefangene sollten für jeden aus dem Behandlerteam verpflichtend sein. Nur wenn jeder Einzelne aus dem Team sein Gegenüber kenne, könne man professionell und sicher auf ihn einwirken. Zudem seien spezielle Fallkonferenzen zur Besprechung von Zwischenfällen ein wichtiges Instrument, um sich institutionell weiterzuentwickeln und sich zunehmend zu professionalisieren. Auf diese Weise, erläuterte die Referentin, könnten Risiken minimiert und die Behandlung effizienter gestaltet werden.
Datenschutz darf nicht die Behandlung beeinträchtigen
Auf völliges Unverständnis stieß bei Dr. Nahlah Saimeh der Umstand, dass die Daten des medizinischen Dienstes aus vorgeblich datenschutzrechtlichen Gründen nicht Grundlage des allgemeinen innervollzuglichen Kenntnisstandes sind. Wie solle man adäquat auf einen Gefangenen eingehen, seine aktuellen Veränderungen ein- und zuordnen, wenn man seine psychiatrische Diagnose und die dahinterliegende Medikation und Therapie nicht kennen dürfe? Dies sei lächerlich und könne nicht Grundlage eines professionellen Behandlungsvollzuges und schon gar nicht Basis einer verantwortlichen Prognostik sein, machte Dr. Saimeh ihre Auffassung nachdrücklich klar. Angesichts der immer wieder politisch vorgetragenen Priorität des Behandlungsvollzuges, verwundere es schon, dass der Datenschutz höher bewertet wird als die Erreichung des Vollzugszieles sowie die Behandlung und Minimierung des Rückfallrisikos. Innerhalb eines Behandlungsteams, das notwendigerweise den Arzt, den Psychologen die Sozialarbeiter und die betreuenden Vollzugsbediensteten umfasst, keine Transparenz zu schaffen, könne keine zukunftsfähige Basis eines vorgeblich richtungsweisenden Vollzuges sein.
Gewaltbereitschaft von Flüchtlingen wird auch auf den Strafvollzug ausstrahlen
In ihrem Referat ging Nahlah Saimeh auch auf die Aggressionsursachen und die vermeintlich zunehmende Gewaltbereitschaft innerhalb der Gruppe der Kriegsflüchtlinge ein. Diese Gruppe könne im Zuge epigenetischer Effekte eine gesteigerte Gewaltbereitschaft aufweisen, die zusätzlich über Sozialisationseffekte verstärkt werden könne. Es sei inzwischen nachgewiesen, so Dr. Saimeh, dass die Gewalterfahrungen einer werdenden Mutter das Erbgut des ungeborenen Kindes verändere und so das ungeborene Leben quasi genetisch auf eine feindliche Gesellschaft vorbereitet werde. Angesichts der politischen und strukturellen Zustände in den Heimatländern der Flüchtlinge und auch der historisch-kulturell bedingten untergeordneten Frauenrolle (inklusive Rechtfertigung von Gewalt gegenüber Frauen) dürfte auch diese Faktenlage innerhalb unserer Diagnostik zukünftig eine zunehmend bedeutsame Rolle einnehmen.
Abschließend ging Dr. Nahlah Saimeh kurz auf die Grenzen therapeutischer Möglichkeiten ein und betonte noch einmal die traurige Wahrheit, dass Therapie und Behandlung nicht jeden Behandlungsbedürftigen erreichen könne und es leider immer wieder Individualstrukturen gebe, die beispielsweise aufgrund von Intelligenzminderung, dementieller Ausfälle, aufgrund von Persönlichkeitsstörungen oder sogar einer Kombination aus alledem deutliche Beeinträchtigungen aufwiesen und entsprechend benachteiligt seien. Dr. Saimeh verdeutlichte vor diesem Hintergrund metaphorisch eindrücklich, dass ein persönlichkeitsgestörter Gefangener mit unklaren und unspezifischen mehrfachen Tötungsdelikten „lediglich mit den Füßen voran“ den Vollzug verlassen könne. „Da muss man sich gar keinen Illusionen hingeben und sich seiner Verantwortlichkeit bewusst sein“, schloss die Referentin ihre Ausführungen.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen in der ambitionierten Restauration der dbb-Akademie und einem interessanten und angeregten Austausch über das soeben Gehörte, war im Anschluss ein weiteres Highlight vorgesehen. Geplant war, bei strahlendem Sonnenschein das Schloss Drachenburg zu besuchen und über die Fortbildung, den Vollzug im Allgemeinen und Speziellen, über Politik und gewerkschaftliche Möglichkeiten zu sprechen. Auch diesem zweiten Teil folgten etliche Kolleginnen und Kollegen. In lockerer Atmosphäre wurden im malerischen Ambiente des Schlosses die Ideen und Vorschläge des BSBD zur Gestaltung der Gewerkschaftsarbeit für die Fachschaft vorgetragen und konstruktiv diskutiert.
Als sich die Sonne über dem märchenhaft schönen Siebengebirge senkte war die erste aber gewiss nicht letzte rundum gelungene fachspezifische Fortbildung des BSBD beendet.
Dierk Brunn
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