Diese Frage stellt sich von ganz allein, wenn man den tz-Bericht vom 6.11.2019 über die Entweichungen aus dem NRW-Strafvollzug liest. Die reißerische Darstellung der Fakten vermittelt den Eindruck, als wolle der Autor seinen Leserinnen und Lesern vor Augen führen, wie verantwortungslos die Vollzugsbehörden in Nordrhein-Westfalen mit der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger spielen, statt sie zu gewährleisten. Dieser Eindruck soll offenbar wohl auch erzeugt werden. Dafür werden die Fakten auch schon mal kräftig zurechtgebogen.
Entweichungen und Ausbrüche aus dem geschlossenen Vollzug, in dem jene Gefangenen untergebracht sind, die für die öffentliche Sicherheit ein beträchtliches Risiko darstellen, sind seit Jahren stark rückläufig. Dem Bericht des Ministers der Justiz an den Rechtsausschuss des NRW-Landtags, auf den sich die tz bezieht, sind lediglich sechs Entweichungen oder Ausbrüche aus dem geschlossenen Vollzug während des Berichtszeitraums von zweieinhalb Jahren zu entnehmen. Bezogen auf ein Jahr gelingt damit lediglich 2,4 Inhaftierten die Flucht aus einer geschlossenen Einrichtung in Nordrhein-Westfalen. In dem Bericht des Ministeriums sind diese Fälle im Übrigen einzelnen dargestellt. Und selbst diese Aussage ist erklärungsbedürftig, weil nämlich nur einem Gefangenen die Flucht aus einem NRW-Gefängnis gelungen ist. Alle anderen haben Ausführungen u.a. zu Gerichten und Krankenhäusern genutzt, um sich dem Vollzug zu entziehen.
Manipulation statt journalistischer Sorgfalt
Natürlich wären diese Fakten keine Nachricht für eine Boulevardzeitung gewesen, deshalb wurden sie auch gar nicht erst kommuniziert. Unter Abschnitt II. führt der ministerielle Bericht an den Rechtsausschuss 492 Entweichungen aus dem offenen Vollzug auf. Das ist für den Berichtsverfasser ein „gefundenes Fressen“. Schnell sind die Entweichungen aus dem geschlossenen und offenen Vollzug zu 498 Fällen addiert und diese neuen Fakten mutieren im Journalistengehirn des Berichtsverfassers zu der „steilen“ These: „Ganz NRW verzeichnet insgesamt 498 Ausbrüche.“
Das ist einmal eine verwegene Aussage und zugleich eine beeindruckende Zahl, mit der offenbar sinnbildlich ein Organisationsversagen der NRW-Vollzugsbehörden belegt werden soll. Und es kommt noch besser. Der Berichtsverfasser behauptet zudem, dass sich von „seinen“ 498 Ausbrechern „bis heute 18 Verbrecher auf der Flucht“ befänden. Diese Aussage, die sich durch rein gar nichts belegen lässt, soll wohl Krisenstimmung bei der Leserschaft auslösen. Dabei stehen dieser Behauptung einfach die Gesetze der Logik im Wege. Wenn in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren nur einem Inhaftierten ein Ausbruch aus einem NRW-Gefängnis gelungen ist, wie können dann noch 18 auf der Flucht sein?
Die tz verfolgt nicht die Absicht, sachgerecht zu informieren
Obwohl der Bericht des Ministeriums an den Rechtsausschuss des Landtages deutlich zwischen offenem und geschlossenem Vollzug differenziert, lässt sich der tz-Redakteur hiervon nicht sonderlich beeindrucken. Er wirft quasi Äpfel und Birnen in einen Topf. Die gute Absicht, die Leserschaft über den Strafvollzug zu informieren, verkehrt sich folglich in ihr Gegenteil und wird zur Desinformation. Aber vielleicht, so glaubt der Verfasser vermutlich, muss einen Sachverhalt der Hauch des Skandalösen umwehen, damit ein Beitrag von den Leserinnen und Lesern des Boulevardblattes zur Kenntnis genommen wird. Mit Journalismus hat das allerdings nichts mehr zu tun.
Um das „verantwortungslose Agieren“ der Entscheider in den NRW-Vollzugseinrichtungen zu belegen, stellt der Verfasser eine Hitliste mit den meisten geflüchteten Gefangenen auf. Als Spitzenreiter wird die JVA Bielefeld-Senne benannt, gefolgt von den Einrichtungen in Castrop-Rauxel und Remscheid. Dass es sich bei allen drei Einrichtungen um Anstalten des offenen Vollzuges handelt, hätte den tz-Radakteur stutzig machen müssen. Kritische Reflexion eines Sachverhaltes ist aber oftmals kontraproduktiv, wenn sich dadurch die ganze Geschichte von einer Sekunde auf die andere in Luft auflösen würde.
tz-Redakteur vermeidet alles, was seine Geschichte hätte gefährden können
Ein Blick in das Strafvollzugsgesetz NRW hätte darüber Aufschluss geben können, welche Personengruppen im geschlossenen oder offenen Vollzug untergebracht werden. Der tz-Redakteur hätte so erfahren können, dass im offenen Vollzug nur geeignete Gefangene untergebracht werden, von denen eine Gefahr für die Allgemeinheit nicht zu erwarten ist. Dies ist auch sinnvoll, weil die offenen Einrichtungen in der Regel über keine Abschlussvorrichtungen zur Verhinderung von Entweichungen verfügen.
Der offene Vollzug dient dazu, die Gefangenen sachgerecht auf die Entlassung vorzubereiten und die im Vollzug neu eingeübten Verhaltensalternativen auf Tragfähigkeit zu überprüfen. Wenn aber jeder Gefangene, der sich im offenen Vollzug befindet, die Möglichkeit hat, die Einrichtung zu verlassen, dann macht der ein oder andere von dieser Möglichkeit auch Gebrauch.
Oftmals sind Probleme in der Familie der Auslöser für solche Handlungen. Die meisten kehren nach wenigen Tagen zurück, egal, ob sie sich freiwillig stellen oder durch die Polizei zugeführt werden. Interessant für die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht, in welchem Umfang die Heranführung der Gefangenen an die Freiheit missbräuchlich ausgenutzt wird. Gerade hierüber gibt der Beitrag der tz aber keine Auskunft. Es werden lediglich die absoluten Zahlen der Entweichungen genannt. Auf welche Anzahl von Gefangenen sich die Entweichungen beziehen, wird den Lesern leider vorenthalten.
JVA Bielefeld-Senne hat eine sensationell geringe Missbrauchsquote
Die JVA Bielefeld-Senne, die der tz-Redakteur als traurigen Spitzenreiter bezeichnet, verfügt über 1.645 Haftplätze. In zweieinhalb Jahren waren dort mindestens rd. 4.000 Gefangene untergebracht. Diese hatten täglich die Möglichkeit, das in sie gesetzte Vertrauen zu missbrauchen. Hieraus errechnen sich rd. 1,5 Mio. Fälle, denen 159 Versagensfälle gegenüberstehen. Die Versagensquote beträgt somit 0,01 Prozent. Und das soll nach Meinung des tz-Redakteurs ein Skandal sein?
Der tz-Beitrag macht auf exemplarische Weise deutlich, mit welch kleinen strategischen Kunstgriffen ein Sachverhalt in sein Gegenteil verkehrt werden kann. Anstatt sachgerecht zu informieren, wird die Vollzugsform des offenen Vollzuges desavouiert. Dabei ist der offene Vollzug für den Steuerzahler äußerst kostengünstig, stellt für die Gesellschaft angesichts der geringen Missbrauchszahlen kein großes Sicherheitsrisiko dar und bereitet die Gefangenen bestmöglich auf den Zeitpunkt der Entlassung vor.
„Relotius-Journalismus“ ist Betrug an der Leserschaft
In einer ersten Stellungnahme kritisierte BSBD-Chef Ulrich Biermann den tz-Artikel als ein Beispiel dafür, wie durch das Ignorieren und das willkürliche Vermengen von Fakten Vorurteile gegenüber dem Vollzug geschürt würden. „Ich hatte bislang gehofft, dass wir den ‚Relotius-Journalismus‘ überwunden hätten. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Der tz-Artikel lässt jeglichen journalistischen Anspruch vermissen. Durch sehr eigenwillige – wohl eher unzulässige – Präsentation von Fakten, wird der Ruf der Vollzugseinrichtungen und des Personals fahrlässig beschädigt, obwohl es dafür keine faktenbasierte Grundlage gibt. Auch wenn Boulevardzeitungen eigenen Regeln folgen, so dürfen sie sich doch nicht gänzlich von der Realität abkoppeln, wie es mit diesem tz-Artikel geschehen ist. Die Chefredaktion wäre gut beraten, künftig weniger tendenziös und dafür sachgerecht zu berichten.“
Friedhelm Sanker
Link zum Beitrag der TZ
Foto: Klaus Mueller/wikimedia.org
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