Erst das Fundament, dann die Grundmauern

Wer ein Gebäude errichten will, sollte diese Reihenfolge beachten, ansonsten droht ein statisches Fiasko. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat mit Beschluss vom 6. November 2019 (2 BvR 2267/18) seine Rechtsauffassung nochmals bestätigt und die Voraussetzungen für die Ausganggewährung deutlich abgesenkt.

Hierdurch wird die derzeitige Statik des Vollzuges beeinträchtigt. Und auch das Konzept der Behandlungsmaßnahmen und deren Prioritäten wird spürbar verändert. Die Verfassungsrichter stellen erneut fest, dass das aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes abgeleitete Grundrecht auf Resozialisierung den Staat verpflichtet, den Vollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftig straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Pauschale Wertungen oder lediglich der abstrakte Hinweis auf eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr reichen nach Ansicht der Verfassungsrichter nicht aus, um eine Lockerung in Gestalt einer Ausführung zu versagen.

Die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts stellt den Vollzug vor arge Probleme. Zu langen Strafen verurteilte Rechtsbrecher mit teilweise anschließender oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung haben nach dieser Entscheidung bessere Aussichten, regelmäßige Ausführungen zur Vermeidung einer Beeinträchtigung ihrer Lebenstüchtigkeit zu erhalten.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts wird in der Praxis voraussichtlich zu einer Verdopplung der Ausführungen führen. Dies stellt die Vollzugseinrichtungen vor erhebliche Probleme, weil die Personaldecke zur Sicherung und Begleitung solcher Maßnahmen bereits jetzt sehr dünn ist.

Ermessensspielraum des Vollzuges eingegrenzt

Das Bundesverfassungsgericht hat den Ermessensspielraum des Vollzuges mit seinen Entscheidungen deutlich beschnitten. Logischerweise wird sich dies in einer steigenden Zahl von bewilligten Ausführungen niederschlagen. Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit können künftig nur noch versagt werden, wenn es für eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr konkrete Anhaltspunkte gibt.

Die Statik des Vollzuges wird dadurch geändert, weil zunächst Personal für die Sicherung und Begleitung von Lockerungen abgestellt werden muss, das mit anderen Behandlungsaufgaben mehr als nur ausgelastet ist. Voraussichtlich wird man künftig in den Innenstädten des Landes regelmäßig Gefangene sehen, die an Händen und Füßen gefesselt sind und von wenigstens zwei Bediensteten in Uniform begleitet werden.

Was eine solche Ausführung mit dem Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu tun hat, bleibt vermutlich das Geheimnis eines kleinen, erlesenen Kreises von Juristen. Bislang wurde der individuelle Bedarf jedes einzelnen Gefangenen ermittelt und der individuelle Behandlungsstand mit einer bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr abgewogen. Drohte erkennbar die Einschränkung der Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen, wurden entsprechende Maßnahmen zu deren Erhalt eingeleitet.

Lockerungen sollen einsetzen, wenn die Lebenstüchtigkeit noch nicht beeinträchtigt ist

Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet den bundesdeutschen Vollzug jetzt aber faktisch dazu, Lockerungen „präventiv“ zu gewähren, um die Lebenstüchtigkeit der betroffenen Inhaftierten zu erhalten. Lockerungen sollen deshalb frühzeitig einsetzen, um eine Beeinträchtigung der Lebenstüchtigkeit zu verhindern.

Die Strafvollzugsbediensteten stehen zu ihrem gesetzlichen Auftrag und folglich zu der Idee des Behandlungsvollzuges. Bei dem Personenkreis, der jetzt gegenüber der bisherigen Praxis begünstigt wird, handelt es sich um Mörder, Vergewaltiger, Terroristen, Kinderschänder, um Mitglieder der organisierten und der Clan-Kriminalität. Viele von ihnen sind gefährlich und stellen ein erhebliches Risiko für die Gesellschaft dar. In diesem Bereich jetzt zusätzliches Personal zu binden, wäre vieleicht angemessen, wenn das Ziel, die Lebenstüchtigkeit dieses Personenkreises zu erhalten, mit dem Mittel der Ausführung tatsächlich erreicht würde. Dass dieses Ziel auf diese Weise erreicht werden kann, darf allerdings mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darf nicht zu noch höheren Belastungen führen

An vielen Stellen des Vollzuges gibt es Mangelverwaltung und Nachbesserungsbedarf, um einen zukunftsorientierten Behandlungsvollzug zu implementieren. Um diese Missstände zu beheben, benötigen wir qualifiziertes Personal, motivierte Fachkräfte unterschiedlicher Profession. Wir benötigen Hunderte, und zwar jetzt sofort. Ansonsten steht der Vollzug auf tönernen Füßen, ohne festes Fundament und ohne stabile Grundmauern.

In Düsseldorf nahm BSBD-Chef Ulrich Biermann zu diesem Komplex Stellung und erklärte: „Das Justizministerium wird in Kürze seine Durchführungsbestimmungen für Lockerungen überarbeiten müssen, um die Vorgaben der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts in das Regelwerk einzuarbeiten. Es sollte dabei allerdings vermieden werden, aus diesem Anlass noch zusätzliche Aufgaben draufzusatteln. Die Kolleginnen und Kollegen sind an ihrer Belastungsgrenze angelangt. Immerhin gibt es noch Tausende von Gefangenen, die ebenfalls ein Grundrecht auf Resozialisierung besitzen. Auch diese Inhaftierten haben Anspruch auf effektive Behandlung, damit ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft optimal gefördert werden kann.“

Dierk Brunn/Friedhelm Sanker

Foto im Beitrag © CrazyCloud / stock.adobe.com

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Von BSBD NRW

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