Geiselnahme in der JVA Münster: Erste Ermittlungen erhellen die Dramatik der Situation
Am vergangenen Freitag hat ein Beamter eines Spezialeinsatzkommandos in der JVA Münster einen 40-jährigen Geiselnehmer erschossen.
Weil er seine Geisel permanent mit dem Tod bedrohte und zudem verbalen Einflussnahmen nicht zugänglich war, sondern sich in zunehmende Aggressivität hineinsteigerte, gab es zum finalen Rettungsschuss offenbar keine vernünftige Alternative.
Wie in Fällen dieser Art üblich, wurde das Polizeipräsidium Dortmund zwischenzeitlich aus Neutralitätsgründen mit der Aufklärung der Umstände des Schusswaffeneinsatzes beauftragt. Nach § 54 des Polizeigesetzes NRW ist der Rettungsschuss als ultima ratio ausgestaltet. Er muss in der konkreten Situation das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit einer Person sein, um als rechtlich zulässige Handlungsoption der Polizei zu gelten. Im Rahmen der laufenden Ermittlungen soll nunmehr festgestellt werden, ob der Schusswaffeneinsatz in der JVA Münster diesen gesetzlichen Vorgaben entsprochen hat.
Die Umstände der Tat
Zur Bewältigung einer Geiselnahme gehört es standardmäßig, alle verfügbaren Daten für die Einsatzleitung nutzbar zu machen. Folglich war der Leitung bekannt, dass es sich bei dem Geiselnehmer um einen psychisch auffälligen Gefangenen handelte, der trotz seiner recht kurzen Reststrafe auf einer Sonderabteilung der Vollzugseinrichtung untergebracht war.
Der von ihm bewohnte Haftraum war durch eine innenliegende Plexiglastür gesichert, um eine unmittelbare Konfrontation von Bediensteten und Gefangenen zu vermeiden. Am letzten Freitag wurde der Haftraum des Geiselnehmers anlässlich der Frühstücksausgabe durch zwei Bedienstete und eine Beamtenanwärterin geöffnet.
Nach dem Empfang des Essens bat der Gefangene darum, seine Schmutzwäsche herausgeben zu dürfen. Diesem Wunsch entsprachen die Bediensteten und öffneten die Plexiglastür. Der Gefangene nutzte den Überraschungseffekt, sprang auf die Anwärterin zu und zog sie zu sich heran. Einer der beiden Bediensteten reagierte sofort und attackierte den Gefangenen mit Schlägen zum Körper und Tritten in den Unterleib. Durch diese Attacke geriet der Gefangene ins Straucheln, aber noch im Fallen ergriff er die Haare der Kollegin und zog sie mit sich zu Boden.
Noch bevor die Kollegen abermals zugreifen konnten, präsentierte er einen angespitzten Griff einer Zahnbürste. Er drohte damit, die Kollegin zu töten, wenn die beiden Kollegen nicht sofort den Haftraum verlassen würden. Die beiden zogen sich daraufhin zurück und lösten Alarm aus. Weil der Geiselnehmer nun im Besitz der Anstaltsschlüssel der Kollegin war, wurden die Ausgänge aus dem Haftgebäude gesichert, um die Lage stationär zu machen. Die ebenfalls alarmierte Polizei traf nach ca. 30 Minuten in der Anstalt ein.
Die Verhandlungen
Nach Übernahme der Einsatzleitung durch die Polizei nahm ein Verhandler Kontakt mit dem Geiselnehmer auf. Dieser verlangte die Freilassung und einen Hubschrauber. Die Verhandlungen gestalteten sich offenbar äußerst schwierig, weil der Geiselnehmer immer wieder versuchte, durch die Bedrohung unserer Kollegin Druck auf die Polizei auszuüben und rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich war.
Zu diesem Zeitpunkt war auch die Kriminalitäts-Vita des Geiselnehmers bekannt. Bereits vor dreizehn Jahren, der Geiselnehmer war seinerzeit als Schlachtarbeiter tätig, hatte er seine polnischstämmige Mutter im Rahmen eines Streites attackiert und versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden. Wie durch ein Wunder überlebte seine Mutter diesen Angriff. Völlig empathielos und ohne seiner verletzten Mutter zu helfen, hatte er damals die Wohnung verlassen.
Welch geringfügiger Anlass zu der Aggression des Täters geführt hatte, überraschte damals selbst die Richter des Landgerichts Bielefeld. Der Täter hatte wegen seines Alkoholkonsums einen Teller zu Boden fallen lassen, was sein Mutter wohl kritisierte. Allein diese Kritik ließ ihn zur Tat schreiten. Seine damals 46 Jahre alte Mutter überlebte den Angriff nur knapp. Die Frau erlitt eine zehn Zentimeter lange und drei Zentimeter tiefe Schnittverletzung, ihre beiden Halsschlagadern wurden nur um Millimeter verfehlt.
Im Rahmen der Hauptverhandlung versuchte sich der Täter durch die Aussage zu exkulpieren, seine Mutter habe neben ihn auf der Couch gesessen und sich die Verletzung in suizidaler Absicht selbst beigebracht. Das Schwurgericht wertete diese Aussage als Schutzbehauptung und verurteilte den Mann im Dezember 2007 wegen versuchten Totschlags, begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit, zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe. Außerdem ordnete das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, weil der Verurteilte seit vielen Jahren alkoholabhängig war.
Der 40-Jährige verbüßte aktuell in Münster eine viermonatige Freiheitsstrafe wegen Widerstandes. Der alkoholkranke Mann hatte 2019 auf dem Gelände einer Suchtklinik randaliert und nach Überzeugung des Gerichts in Richtung eines Polizisten getreten. Er wurde zu Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, musste dann aber doch ins Gefängnis, weil er die Bewährungsauflagen nicht eingehalten hatte. In vier Wochen hätte er entlassen werden sollen.
Auch während der laufenden Strafvollstreckung hatte er sich alles andere als kooperativ gezeigt, er machte immer wieder Schwierigkeiten und seine Aggressivität nahm ständig zu. Er gehörte damit zu jenem Personenkreis, vor dem der BSBD seit Monaten warnt und schnell die Verfügbarkeit von Behandlungsoptionen angemahnt hat. Dieser Fall hat exemplarisch deutlich werden lassen, mit welchen Risiken die Kolleginnen und Kollegen aktuell konfrontiert sind. Es ist an der Zeit, dass jetzt verstärkt und intensiv nach Lösungen gesucht und diese recht bald in die Praxis umgesetzt werden, damit solche Ereignisse wie in Münster künftig vermieden werden können.
Die Rettung der Geisel
Nach den dreistündigen Verhandlungen und der emotionalen Ausnahmesituation des Geiselnehmers, dessen Handlungen weder zu kontrollieren noch in ihrer Destruktivität einzuschätzen waren, haben die Polizei offenbar veranlasst, der Geisel durch den Einsatz der Schusswaffe das Leben zu erhalten.
Durch die Anwendung des Rettungsschusses, das ist die positive Seite der Lagebewältigung, wurde das Martyrium unserer Kollegin sofort beendet. Während sie sich in der Gewalt des Geiselnehmers befand, hat sie sich eine oberflächige Verletzung zugezogen, so dass man sagen kann, sie habe die Gewalttat fast unversehrt überstanden. Wie es mit der Psyche aussieht, steht auf einem anderen Blatt. Über drei Stunden permanent mit dem Tode bedroht zu werden, kann den Menschen und seine Einstellungen grundlegend verändern. Wir hoffen, dass unsere Kollegin die menschenverachtende Gewalttat unbeschadet zu verarbeiten vermag. Professionelle Hilfe wird zur Verfügung stehen.
Im Falle des toten Geiselnehmers ist seitens der zuständigen Staatsanwaltschaft die Obduktion angeordnet worden. Offenbar soll auch festgestellt werden, ob er am vergangenen Freitag unter dem Einfluss bewusstseinsverändernder Substanzen stand.
Friedhelm Sanker
Foto: Bernd Thissen/dpa
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